Das Syndrom
Kurzbeschreibung
Harry Angelman, ein britischer Kinderneurologe, hat das Syndrom erstmals 1965 beschrieben. Es ist die Folge einer angeborenen seltenen genetischen Veränderung im Bereich des Chromosom 15. Im Schnitt tritt es bei einem von 30.000 Neugeborenen auf.
Charakteristisch für das Angelman-Syndrom ist eine starke Verzögerung der körperlichen und geistigen Entwicklung und das Ausbleiben von Sprache. Die geistige Entwicklung der meisten Betroffenen erreicht in etwa den Stand von Kleinkindern. Sie bedürfen auch als Jugendliche oder Erwachsene ständiger Betreuung, weil sie sich nicht selbst versorgen und Gefahren nicht erkennen können.
Drei von vier Angelman-Kindern leiden unter epileptischen Anfällen. Unbehandelt bergen diese ein ständiges Verletzungsrisiko, da sie beispielsweise mitten aus der Bewegung heraus zu Stürzen führen.
Eine Aussicht auf Heilung besteht bislang nicht.
Personen mit Angelman-Syndrom haben eine normale Lebenserwartung.
Durch ihr überdurchschnittlich häufiges Lachen sind Angelman-Kinder sehr fröhliche Menschen.
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Definition des Angelman Syndroms
Das AS ist eine neurologische Störung mit Verzögerungen der geistigen Entwicklung, die sich bei den Betroffenen äußerlich durch für die Krankheit charakteristische Gesichtszüge und charakteristisches Verhalten bemerkbar macht. 1965 berichtete Dr. Harry Angelman, ein englischer Arzt, erstmals über seine Beobachtung dreier Kinder, die Charakteristika aufwiesen, die heute als AS bekannt sind. Er stellte fest, dass bei allen drei Kindern steife ruckartige Laufbewegungen, häufiges Lachen und Krampfanfälle zu beobachten waren und sie einen auffallend kleinen, hinten abgeflachten Kopf hatten.
Seit diesem ersten Bericht wurden 150 weitere Fälle in der medizinischen Fachliteratur bekannt, und die Krankheit wird heute als einer der wesentlichen Faktoren für geistige Entwicklungsstörungen angesehen.
Dr. Angelman teilt Folgendes über die Entdeckung dieses Syndroms mit: „Die Geschichte der Medizin ist voller interessanter Darlegungen über die Entdeckung von Krankheiten. Der Bericht über AS gehört dazu. Es war reiner Zufall, dass vor 30 Jahren drei behinderte Kinder zu verschiedenen Zeiten auf meiner Kinderstation in England aufgenommen wurden. Sie wiesen alle eine Reihe von Behinderungen auf, und obwohl es anfangs schien, als litten sie unter unterschiedlichen Krankheiten, hatte ich das Gefühl, es gäbe für ihr Leiden eine gemeinsame Ursache. Die Diagnose wurde rein klinisch gestellt, denn trotz der technischen Untersuchungsmethoden, die bis heute noch viel ausgereifter sind, konnte ich keinen Beweis dafür erbringen, dass die Kinder unter der gleichen Behinderung litten. Aus diesem Grunde zögerte ich auch, sie in den med. Fachzeitschriften zu erwähnen.
Als ich jedoch einen Urlaub in Italien verbrachte, sah ich ein altes Ölgemälde im Castelvecchio Museum, das den Namen „Junge mit Marionette“ trug. Das lachende Gesicht und die Tatsache, dass meine Patienten sich stets ruckartig bewegten, gaben mir die Idee, einen Artikel über die drei Kinder unter der Bezeichnung „Marionettenkinder“ zu schreiben. Diese Bezeichnung fand nicht bei allen Eltern Anklang, aber sie stellte einen gemeinsamen Nenner für die Beschreibung der Kinder dar. Später wurde der Name in Angelman-Syndrom umgewandelt. Dieser Artikel wurde 1965 herausgegeben und ist dann, nach anfänglichem Interesse, in Vergessenheit geraten. Viele Ärzte widersprachen sogar der These, dass eine solche Krankheit überhaupt existiere. In dem letzten Jahrzehnt gelang es jedoch amerikanischen und englischen Ärzten, mit unumstrittener Diagnosenstellung die Existenz der Krankheit zu belegen...“ AS wird am häufigsten von einem pädiatrischen Neurologen oder pädiatrischen Genetiker diagnostiziert. Es kommt auch vor, dass Eltern nach der Lektüre über AS oder der Bekanntschaft mit einem Kind, das AS hat, erstmals der Verdacht kommt, ihr Kind könnte betroffen sein. Meistens wird die Diagnose zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr gestellt, wenn die charakteristischen Verhaltensweisen des AS am deutlichsten hervortreten. Das Kind mit den klassischen Merkmalen des AS weist starke Entwicklungsstörungen oder geistige Behinderung auf. Es kann nicht sprechen und hat oft einen äußerst glücklichen Gesichtsausdruck (teilweise durch häufiges Lachen sowie vorgestreckte Zunge gekennzeichnet). Das Laufen fällt ihm wegen seiner steifen, ruckartigen, unkoordinierten Bewegungen schwer; die Arme werden emporgehoben. Es kommt zu Krampfanfällen, die mit einem unregelmäßigen EEG in Verbindung gebracht werden. Mäßige Hypopigmentation der Haut tritt auf. Es müssen zur Diagnosestellung allerdings nicht alle Merkmale vorliegen.
Kinder mit AS weisen keine besonderen physischen Missbildungen auf und die Gesichtszüge sind in der Regel nicht anormal, sondern spiegeln die der Eltern wieder. Die Kombination der Verhaltensweisen und unkoordinierten Bewegungen ergeben jedoch ein typisches Bild des AS.
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Merkmale
Nicht alle Menschen weisen alle Merkmale auf, die vorhandenen Merkmale treten auch nicht in gleich starker Ausprägung auf:
• häufiges, oft objektiv unbegründetes Lächeln und Lachen, zum Teil regelrechte Lachanfälle, oft bei Aufregung
• kognitive Behinderung
• oft Hyperaktivität
• Konzentrationsschwierigkeiten, häufig kurze Aufmerksamkeitsspanne, aber oftmals gutes Gedächtnis für Gesichter und Richtungen, gute räumliche Orientierung
• im Kleinkindalter oft keine Sprechversuche, kein Brabbeln, später nur sehr eingeschränkte lautsprachliche Artikulationsfähigkeit
• gute rezeptive Sprache (Sprachverständnis)
• überdurchschnittlich lange Dauer der oralen Phase
(Erkundung der Umwelt mit dem Mund)
• Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen, Ataxie (meist eher steifer, ungelenker, schwankender, breitbeiniger Gang, ruckartige, abgehackte (Lauf-) Bewegungen, eines von zehn Kindern lernt nicht laufen)
• Verzögerung der motorischen Entwicklung
(dadurch auch z. B. vergleichsweise spätes Laufenlernen)
• Wahrnehmungsstörungen im körperlichen Bereich
(oft zum Beispiel Gleichgewichtsprobleme)
• oft übermäßige Mund- und Kaubewegungen aufgrund von ungenügender Kontrolle der Mundmuskulatur
• Schlafstörungen durch einen Mangel an mindestens einem der Hormone, die den gesunden Schlaf steuern
• vergleichsweise kleiner Kopf (Mikrozephalie), der oft an der Hinterseite abgeflacht ist
• ungewöhnliches Hervorstrecken der Zunge (Auftretenshäufigkeit etwa 50 %)
• Epilepsie mit Beginn meist zwischen dem 3. und 36. Monat nach der Geburt, die Anfälle verschwinden oft im Jugendalter, etwa um das 16. Lebensjahr, wieder (Auftretenshäufigkeit bis zu 90 %)
• Besonderheiten im EEG, auch unabhängig von Epilepsie und auch im Schlaf nachweisbar
• Wachstumsstörungen
• häufig Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) in der Pubertät
• kleine Hände und Füße, nach außen gedrehte Füße
• häufig sehr schwach pigmentierte Haut, helles Haar und blaue Augen (Hypopigmentierung, zum Teil Parallelen zum Albinismus)
• großer Mund mit hervorstehendem Oberkiefer
• vergleichsweise kleine Zähne, die oft recht weit auseinander stehen
• übermäßiger Speichelfluss
• Schielen (Strabismus) mit einer Auftretenshäufigkeit von 50 %
• übermäßiges Schwitzen, besondere Hitzeempfindlichkeit
Menschen mit Angelman-Syndrom fallen oft durch eine intensive Suche nach Körperkontakt auf. Sie haben meist viel Sinn für Humor, sind häufig sehr sozial, gewöhnlich in der Grundhaltung freundlich und sie lachen sehr viel, wenngleich oft objektiv grundlos und oft bei Aufregung. Auch extreme Schlafstörungen sind häufig. Diese werden durch einen Hormonmangel verursacht und sind nicht pädagogisch zu regulieren. Viele Kinder mit Angelman-Syndrom müssen nachts fixiert werden, z. B. mittels eines Schulter-Bauch-Gurtes, damit sie zur Ruhe kommen.
Trotz des Unvermögens, regelgerechtes Sprechen zu lernen (im Schnitt können sechs Wörter lautsprachlich verständlich artikuliert werden), sind Menschen mit dem Angelman-Syndrom meist fähig, einfache, teils sehr subjektiv gehaltene Gebärden, z. B. nach dem Prinzip der Gebärden-unterstützten Kommunikation (GuK) zu erlernen, Bilder zur Kommunikation zu verwenden oder Gesten zur Verständigung einzusetzen. Menschen mit Angelman-Syndrom bleiben lebenslang auf die Hilfe anderer angewiesen.
Sie sind in unterschiedlichem, aber meist sehr begrenztem Maße intellektuell bildbar, benötigen meist spezielle Hilfen und vor allem dauerhaft personelle Unterstützung beim Lernen und bei der lebenspraktischen Bewältigung des Alltags.
Viele Menschen mit Angelman-Syndrom haben eine besondere Vorliebe für Wasser. Sie gehen gerne schwimmen, spielen gern mit Wasser und sind fasziniert durch Spiegelungen auf Wasser- oder z. B. auch auf Glasflächen. Auch Plastik, insbesondere stark knisterndes Material wie etwa Plastiktüten oder Verpackungen, übt auf die meisten eine starke Faszination aus. Oft betrachten Menschen mit Angelman-Syndrom sehr gerne Bilder von sich selbst und nahen Bezugspersonen.
Bei 50 bis 80 von 100 Menschen mit Angelman-Syndrom liegt die Ursache der Besonderheit in einer Deletion (= Stückverlust) des mütterlichen (= maternalen) Chromosoms 15 im Bereich 15q11-q13 (zum Teil mit Translokation). Bei zwei bis fünf von 100 Personen liegt eine uniparentale Disomie (UPD) 15 vor. Im Fall des Angelman-Syndroms hat das Kind beide Chromosomen 15 vom väterlichen Elternteil geerbt (paternale Disomie) und keines von der Mutter.
Bei acht bis elf von 100 Menschen mit Angelman-Syndrom findet sich eine Genmutation im Bereich 15q11.13 (UBE3A). Ein Fehler im Imprinting-Center ist bei etwa fünf von 100 Personen nachweisbar. Dieses kontrolliert sieben Gene, die auf dem väterlichen (= paternalen) und mütterlichen (= maternalen) Chromosom differentiell methyliert sind. Dabei werden Cytosin-Nukleotide, auf die ein Guanosin-Nukleotid folgt (CpG-Gruppen), mit einer Methyl-Gruppe versehen. Dies hat auf eine noch weitestgehend unverstandene Weise eine Inaktivierung des Gens zur Folge. Durch das Imprinting ist auf dem maternalen Chromosom lediglich das Gen UBE3A aktiv, während auf dem paternalen Chromosom alle Gene außer UBE3A exprimiert werden. Ist die Funktion des Imprinting-Centers gestört, hat dies ein fehlendes oder fehlerhaftes Methylierungsmuster zur Folge, was unter anderem das Angelman-Syndrom zur Folge haben kann. In manchen Fällen wird das Angelman-Syndrom in gewisser Weise vererbt. Die Eltern sind dabei nicht betroffen, haben aber bestimmte Chromosomenbesonderheiten, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ein Kind mit Angelman-Syndrom zu zeugen. Dies zeigt sich in der auffallenden Häufigkeit von gleichsam betroffenen Geschwistern.
Die Diagnose wird im Schnitt zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr durch Neurologen (anhand auffälliger EEG-Werte, unabhängig von Epilepsie, auch in Schlaf bestehend) oder durch Genetiker (anhand einer zytogenetischen oder molekulargenetischen Untersuchung) gestellt: Es ist möglich, das Angelman-Syndrom bei einem Teil der betroffenen Kinder durch einen Gentest festzustellen, jedoch nicht bei allen, bei denen man von der klinischen Symptomatik her vom Vorliegen des Syndroms ausgeht. Ein positiver Gentest kann also das Angelman-Syndrom mit Gewissheit feststellen, jedoch schließt ein negativer Test es nicht aus. Vielfach wenden sich die Eltern des Kindes mit dem Verdacht auf das Angelman-Syndrom an ihren Kinderarzt, da sie sich aufgrund bestimmter typischer Auffälligkeiten bereits im Vorfeld informiert haben, um eine Erklärung für Besonderheiten ihres Kindes zu finden. So kann die Beobachtung des Verhaltens und Aussehens des Kindes bei der Diagnostik eine wesentliche Hilfe sein.
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